Gegenwartsgespräche | Judith Kohlenberger

08.11.2023 - 09:00 bis 10:00

So schaffen wir das: Integration von geflüchteten Frauen in Österreich

Judith Kohlenberger, Porträt

„So schaffen wir das: Integration von geflüchteten Frauen in Österreich“ ist das Thema des 12. Gegenwartsgesprächs von ABZ*AUSTRIA. Die beiden ABZ*Geschäftsführerinnen, Manuela Vollmann und Daniela Schallert, begrüßen im Online-Talk die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger.

„Frau Dr. Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien und Affiliate Researcher am Österreichischen Institut für International Politik. Seit 2015 arbeitet sie im Bereich der interdisziplinären Fluchtforschung. Sie lehrt an der Universität Wien und der FH Wien. Ihr neues Buch heißt „So schaffen wir das: Wie wir das Thema Asyl & Migration dem linken und rechten Rand abnehmen und die Krise überwinden“, stellt Manuela Vollmann die Wissenschaftlerin vor.

„Seit vielen Jahren beschäftigen wir uns bei ABZ*AUSTRIA damit, wie es gelingen kann Migrantinnen und Frauen mit Fluchterfahrung effizient und nachhaltig in den österreichischen Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie man ihre Kompetenzen und Qualifikationen sichtbar macht und sie auf individueller Ebene empowert. Deswegen freuen wir uns sehr über Judith Kohlenbergers Perspektive und Erfahrungen“, leitet Manuela Vollmann den Online-Talk ein, der mit einer interaktiven Umfrage beginnt.

Mentimeter-Umfrage

Screenshot Mentimeter-Umfrage mit Wordcloud

„Was ist aus Ihrer Sicht der Hauptgrund, dass Migrantinnen oder Frauen mit Fluchthintergrund bei der Integration in Österreich auf Hindernisse stoßen?“ lautet die Mentimeter-Umfrage, die den Zuschauer*innen gestellt wird. Sprache, fehlendes Wissen und Vorurteile, sind die Top-Antworten in der Word Cloud (siehe Grafik).

„Die Hälfte aller Geflüchteten weltweit sind Frauen und Mädchen“, beginnt Judith Kohlenberger ihren Vortrag: „Unter einem Flüchtling stellen wir uns einen jungen Mann vor, aber in den letzten Jahren haben immer mehr Frauen und Mädchen aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, Irak und Iran das legale Instrument der Familienzusammenführung genutzt – die einzige legale Möglichkeit in Österreich Zuflucht zu finden. Nachgelagert kam noch eine zweite große Gruppe, die Ukrainerinnen. 

Geschlechtsspezifische Formen von Gewalt

Die Vulnerabilität, also die Verletzlichkeit nach Geschlecht, ist gerade im Kriegs- und Fluchtkontext komplex. Geschlechtsspezifische Formen von Gewalt, von Diskriminierung bis zu Unterdrückung werden im Asylverfahren schlagend. Junge Männer verlassen oft als erste das Land, weil sie desertieren und dadurch von Verfolgung durch den Staat betroffen sein können. Es gilt, für beide Geschlechter diese geschlechtsspezifischen Formen von Betroffenheit durch Kriegsgewalt in den Fokus zu nehmen. Nicht nur bei der russischen Invasion der Ukraine wurde Vergewaltigung als Kriegswaffe eingesetzt. Das setzt sich leider für viele Frauen auf der Flucht fort. Die irreguläre Flucht von Syrien oder Afghanistan nach Europa ist für Frauen und Mädchen meist gefährlicher als für Männer und Burschen. Es ist physisch anstrengend und geschlechtsspezifische Formen von Gewalt gehen von anderen Migranten, von Grenzpolizisten oder von Schleppern aus. Auch in den Flüchtlingslagern sind Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt nicht gefeit. Viele unterschiedliche Formen von Gewalt und unterschiedliche Formen von Traumatisierung können auftreten.

Schockierende Berichte aus Flüchtlingslagern

Gerade in den Jahren 2015 und 2016 gab es sehr schockierende Berichte aus Flüchtlingslagern, nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Europa, gepaart mit oft schlechten hygienischen Bedingungen. Dies ist besonders für Frauen ein relevanter Faktor. Recherchen und Fact-Finding-Missionen mit EU-Parlamentarier*innen zeigten etwa, dass geflüchtete Frauen in diesen Lagern entweder den ganzen Tag nichts gegessen und getrunken haben, damit sie nicht die Toilette aufsuchen mussten, weil der Weg dorthin so gefährlich war, oder sie haben Windeln getragen. Es ist wichtig, sich zu verdeutlichen, was es heißt nach Europa zu flüchten und besonders, was es für Frauen bedeutet. Natürlich ist es wichtig, dass diese Frauen in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft integriert werden, aber diese Vulnerabilität darf man nicht aus den Augen verlieren.

Auch im Aufnahmeland kommen spezifische Hürden dazu: die Trennung von der Familie sowie wirtschaftliche Not und Armut. Letzteres ist ein zentraler Faktor bei der Frage von Abhängigkeit oder Unabhängigkeit. Etwa 90 Prozent aller geflüchteten Frauen in Österreich leben in armutsgefährdeten Haushalten. Eine Frau kann sich aus einer Gewaltbeziehung heraus kaum trennen, wenn sie finanziell vom Ehemann abhängig ist.

Veränderung der innerfamiliären Rollen

Das kennen wir aus den feministischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte und das ist Realität auch hier in Österreich: Die finanzielle Unabhängigkeit ist wesentlich, um aus dysfunktionalen Beziehungen herauszutreten. Die Forschung zeigt, dass Migration und noch mehr Flucht häufig mit einer Veränderung der innerfamiliären Rollen einhergehen. Die allerwenigsten Migrant*innen können an den Status, den sie im Herkunftsland hatten, anschließen, wenn sie im Aufnahmeland sind. Dieser Statusverlust ist besonders für Männer schwierig zu verarbeiten. 2015 stammten nicht wenige der Ankommenden aus der Mittelschicht, die teilweise gute Jobs und Einkommen hatten. Wenn sich das im Aufnahmeland ändert, kann das einen großen Druck bedeuten und große Spannungen verursachen, innerhalb der Familie und innerhalb der Ehe.

Diese Veränderung von Rollen bei gleichzeitiger – zumindest in der Theorie – Aufwertung der Rolle der Frau aufgrund der vermehrten Rechte im Aufnahmeland sowie dem Erwerbsdruck, der auch auf den Frauen lastet, kann zu vielen Spannungen führen. Wir sehen z.B., dass die Scheidungsraten bei geflüchteten Frauen steigen. Das kann man einerseits als positives Signal werten: Mehr Unabhängigkeit und weniger Stigmatisierung. Aber es deutet eben auch auf diesen größeren Druck in der Familie und in der Beziehung hin.

Barrieren

Wenn es um die Integration in den Arbeitsmarkt geht, sind geflüchtete Frauen mit besonderen Barrieren konfrontiert und das spiegelt sich in ihrer Erwerbsquote von etwa 45 Prozent in der EU wider. Das ist im Vergleich mit geflüchteten Männern und auch mit migrantischen Frauen sehr niedrig. Geflüchtete Frauen haben im Gegensatz zu Frauen, die schon länger hier sind, häufig kein soziales Netz. In punkto Betreuungspflichten sind sie auf sich allein gestellt. Laut den Daten einer Studie, an der ich selbst beteiligt war, wurde jede vierte der befragten geflüchteten Frauen aus Afghanistan und Syrien in Österreich schon einmal im öffentlichen Raum angeschrien, angespuckt oder hat körperliche Gewalt erfahren. Die meisten haben das der Tatsache zugeschrieben, dass sie Kopftuch tragen. Solche Diskriminierungserfahrungen, die auch in tätliche Gewalt münden, haben Auswirkungen, unter anderem auf die psychosoziale Gesundheit.

Geflüchtete Frauen sind meistens stärker von psychischen Belastungen betroffen als Männer. Sie leiden öfter unter Depressionen, posttraumatischen Belastungs- und Angststörungen. Hier gilt es, ein gutes Fundament zu schaffen bevor man die Frauen in den Arbeitsmarkt integriert. Diese Thematiken bleiben oft unerkannt. Dann sitzt eine Frau in einem Deutschkurs nach dem anderen, kann eigentlich schon gut Deutsch, aber schafft die Prüfung nicht. Ganzheitliche und nachhaltige Integration braucht ihre Zeit.

Integrations- und Weiterbildungsangebote werden von geflüchteten Frauen häufig aus Zeitgründen seltener in Anspruch genommen als von Männern, außer sie sind spezifisch an Frauen gerichtet. Sie sind auch häufiger von beruflicher Dequalifikation betroffen. Bei den Berufswünsche sind Lehr- und Kulturberufe sowie der Gesundheitsbereich oder Tourismus ganz vorne.

Chancen und Potenziale

Studien zeigen, dass sich geflüchtete Arbeitnehmer und hier vor allem die Arbeitnehmerinnen durch besonders hohe Resilienz und Stressresistenz sowie eine hohe Betriebstreue, also eine hohe Loyalität zum Unternehmen auszeichnen. Die Fluchterfahrung führt dazu, dass man sich nach Stabilität und Sicherheit sehnt – auch im Beruf. Diese Betriebstreue ist sicher ein Faktor, der für Unternehmen relevant und interessant sein kann.

Frauen geben Bildungs- und Integrationschancen, die sie erhalten, viel stärker an ihre Kinder, die gesamte Familie und an die gesamte Community weiter als Männer. Investitionen in Frauen bringt die doppelte Rendite. Das ist sehr wichtig, weil es auch um die zweite und dritte Generation von geflüchteten Menschen geht, um die Möglichkeit des Bildungsaufstiegs und des sozialen Aufstiegs. Die Bildung von geflüchteten Kindern hängt wesentlich stärker von der Mutter als vom Vater ab.

Hohe formale Bildung

Nicht wenige geflüchtete Frauen bringen teils hohe formale Bildung mit, häufig in MINT-Fächern. Beispielsweise haben Frauen, die aus Syrien zu uns gekommen sind, verhältnismäßig öfter einen Abschluss in MINT-Fächern als das bei Österreicherinnen der Fall ist, aber keine Berufserfahrung.“

Daniela Schallert stellt noch Fragen, u.a.: „Warum gelingt es Männern besser, sich hier weniger dequalifiziert zu integrieren als Frauen?“ Judith Kohlenberger hat ein Beispiel aus einer Fokusgruppe parat: „Die Frauen berichteten von unglaublichem Stress, sie waren allein für die Kinder verantwortlich und hatten kein soziales Netz. Die Männer litten unter Langeweile. Wenn der große Anteil der Sorge- und Familienarbeit von Frauen geleistet wird und das Erwerbseinkommen von Frauen nur als Add-on gilt, dann fehlt der Fokus auf die berufliche Entwicklung.“

Downloads